Candidate Experience und Recruitingprozess: Bitte senden Sie uns Ihre aussagefähigen Bewerbungsunterlagen – aber vollständig!

Bei der Konzeption der Karriereseite für einen Kunden ist mir einmal mehr ein Satz aus der gestrigen Welt aufgefallen: „Bitte senden Sie uns Ihre vollständigen, aussagefähigen Bewerbungsunterlagen.“ Ein Satz über den scheinbar nicht mehr nachgedacht wird. Er findet sich stereotyp vermutlich seit vielen Jahrzehnten am Schluss der meisten Stellenanzeigen in Deutschland. Aber es ist ein Satz, der manche Fragen aufwirft. Er entscheidet über die Bewerberfreundlichkeit eines Unternehmens und nicht zuletzt über den Bewerbungsprozess. Und dieser sollte vor der Erstellung einer Karriereseite klar definiert sein.

Denn der Bewerbungsprozess wird auf den Karriereseiten an verschiedenen Stellen erklärt, so z.B. in den Bewerbungstipps und ggf. durch einen kleinen Vorspann im Online-Formular. Zudem muss sich das Unternehmen entscheiden, welche Felder es zum Hochladen von Dokumenten anbieten will. Wird eine Karriereseite neu aufgesetzt sollte daher die erste Frage immer lauten: wie kann der bisher praktizierte Recruiting- bzw. Personalauswahl-Prozess effizienter und vor allem bewerberfreundlicher gestaltet werden. Henrik Zaborowski hat sich bereits Ende letzten Jahres, teilweise recht emotional, in einer 4-teiligen Blogserie ausführlich zu Sinn und Unsinn der heutigen Personalauswahl geäußert. Ich beziehe mich hier teilweise auf den 3. Teil seiner Serie – Sinn oder Unsinn der Auswahl von Bewerbern nach vollständigen, aussagefähigen Bewerbungsunterlagen.

Zunächst erklärt kaum ein Unternehmen, was dies konkret bedeutet, es sei denn es hat den Punkt unter Bewerbungstipps auf der Karriereseite aufgegriffen. Was ist denn a) vollständig und b) aussagefähig? Was sind die Erwartungen des Unternehmens? Dies würde manchem Bewerber sicher sehr bei der Erstellung einer Bewerbung helfen. Nun, im Zweifelsfall eben die Bewerbungsmappe, mit allem was das Zeug hergibt, von Anschreiben über Lebenslauf, Photo, Schul- und Ausbildungszeugnisse, Arbeitgeberzeugnisse, Schulungszertifikate und Urkunden (Stop: nicht die von den Bundesjugendspielen). Also alles schön in Klarsichthüllen, in die Bewerbungsmappe und abschicken, denn der Bewerber musste leider feststellen, dass es mit dem Hochladen über das Bewerbungssystem nicht geklappt hat, da gingen nicht mehr als 10 MB (das muss das schöne Photo gewesen sein).

Ist das wirklich der deutsche Ernst? In anderen Ländern wird schon seit Jahr und Tag überwiegend mit dem Lebenslauf gearbeitet und vielleicht noch einem Anschreiben, „lettre de motivation“ wie er so schön in Frankreich genannt wird. Nehmen wir einmal diejenigen als Beispiel, die tagtäglich über viele Jahre mit einer Vielzahl an Bewerbungen umgehen: die Personalberater, deren Geschäft ich gut kenne, denn ich war und bin selbst einer. Für Berufserfahrene (und nur über dieses Segment spreche ich hier zunächst) läuft die Auswahl in der Personalberatung ausschließlich über den Lebenslauf. In dieser Reihenfolge wird dieser gelesen: ehemalige Arbeitgeber (hier hilft der Bewerber, der kleinere unbekannte Firmen ganz kurz in Größe und Tätigkeit beschreibt), Positionen, ggf. Verweildauer in den Positionen, inhaltliche Aufgaben in den Positionen, ggf. spezielle Fähigkeiten, denn Berufserfahrene werden nach der Berufserfahrung ausgewählt, dazu braucht man weder Anschreiben, noch Zeugnisse, noch Photo, oder irgendein anderes Zertifikat aus der „Bewerbungsmappe“ (die in der Regel ohnehin im Lebenslauf gelistet sind).

Ist ein Kandidat nach diesem Lebenslauf-Screening interessant genug und es besteht Unsicherheit bzgl. des genauen Inhaltes einer Tätigkeit, wird das Telefon eingesetzt, die Frage geklärt, im positiven Fall gleich mit einer Einladung verbunden. Vermutlich trauen sich die meisten Personaler diese Beurteilung über die Facherfahrung nicht zu und mit den Kandidaten telefonieren ist im Alltagsgeschäft eines Personalreferenten für diesen zuviel Aufwand. Aber ob die fehlende Information aus den restlichen Unterlagen hervorgehen wird, ist äußerst fraglich.

Oft habe ich gehört, dass aus den Fachabteilungen der Wunsch nach einem Anschreiben oder nach „vollständigen“ Unterlagen kommt. Im Recruiting Geschäft noch weniger versiert als mancher Personalreferent, strahlt die inhaltliche Fülle einer Bewerbungsmappe vermeintliche Sicherheit aus, alle verfügbaren Informationen zum Kandidaten in der Hand zu halten. Eine „gründliche“ Beurteilung kann nun vorgenommen werden. Auch wiederum ein Grund, warum mancher Fachvorgesetzte monatelang nicht dazu kommt, an den Stapel heranzugehen, um einen weit-verbreiteten Engpass im Recruiting Prozess zu benennen. Zeit für die Personaler, hier einzugreifen und ggf. mit professionellen Schulungen Abhilfe zu schaffen.

Welche Unterlagen verlangt werden, entscheidet über den Aufwand für den Bewerber. Ein schlanker Prozess, der nur einen Lebenslauf fordert, wird mehr Bewerber generieren, v.a. in engen Märkten. Es wird vor allem den Bewerbern erleichtert, die gar nicht auf eine Bewerbung vorbereitet sind, die seit vielen Jahren sehr zufrieden in ihrem Unternehmen sind und vielleicht gerade zufällig auf die Stellenausschreibung gestoßen sind und diese sind oft besonders interessant. Die bei manchen Bewerbermanagementsystemen bestehende Möglichkeit sich mit dem Xing Profil zu bewerben, käme diesen (sofern dort mit einem gepflegten Profil registriert) noch mehr entgegen. Auch die mobile Bewerbung wird durch solche Möglichkeiten erleichtert.

Am Rande sei erwähnt, dass ich immer wieder von Fachvorgesetzten höre, die Bewerbungen zunächst ausdrucken lassen, um dann das Photo einer Bewerbung überkleben zu lassen, allein, um nicht beeinflusst zu werden. Das nenne ich fortschrittlich. Unternehmen, die generell auf ein Photo in der Bewerbung verzichten, könnten sich das Label „Fairer Arbeitgeber – für Chancengleichheit – Aussehen spielt bei uns keine Rolle“ verdienen! Und wieder ein Wettbewerbsvorteil im hart umkämpften Bewerbermarkt und ein Siegel mehr!

Was aber die ganze deutsche Bewerbungsorgie komplett ad absurdum führt – und nun sage mir noch jemand, man kann aus den Bewerbungsunterlagen heraus wirklich jemanden „beurteilen“ – führte mir diese Unternehmensnotiz vor Augen: Die Bewerbungsschreiber: Aus der Garage in die Crowd. Ja, den Anforderungen der Unternehmen wird genüge getan, vollständige und aussagefähige Bewerbungsunterlagen werden maßgeschneidert, aber nach auswählbaren Standarddesigns von eigens dazu gegründeten Firmen für Bewerber erstellt! Der Erfolg des Unternehmens spricht für sich.

Sollte ein Unternehmen mit der eingehenden Bewerbung wirklich eine „Beurteilung“ anstreben, z.B. bei 100-fach eingehenden Praktikums- oder Traineekandidaten, könnten z.B. einige Onlinefragen, dem Bewerberformular vorgeschaltet werden, so wie das viele Bewerbermanagementsysteme anbieten, denn diese haben mehr Möglichkeiten als nur die alte tayloristische, schon zu Zeiten Henry Fords existierende Standardbewerbung digital zu verwalten! Eine weitere Möglichkeit wären die Videos von Viasto, die Kandidaten auf Basis eines Fragensets vergleichbar machen. Möglichkeiten der Unterstützung zur Beurteilung bietet unsere moderne Welt reichlich!

11. Juli 2014 von Volker Seubert
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